Champ im Ausrüstungs-Duell!», «114 verpasste Anrufe von Pornoproduzenten!», «Wenn ein Segen zum Fluch wird»: Als der französische Stabhochspringer Anthony Ammirati an den Olympischen Spielen vergangenen Sommer eine Medaille verpasste, weil er die Latte mit seinem besten Stück touchierte und runterstiess, gingen die Bilder viral, und die Welt lachte und witzelte in den sozialen Medien über Ammiratis «Ausrüstung». Auch Frauen: «Französischer Schwimmer, französischer Stabhochspringer – kann meinen Trip nach Frankreich kaum erwarten!», «Er ist der Traum aller Frauen. Vielleicht sollte ich einen Franzosen daten», «Seine Männlichkeit verdient eine Medaille». Kein Aufschrei, kein Mensch störte sich daran.

Ich würde einen hohen Einsatz wetten, dass die öffentliche Reaktion längst nicht so locker ausgefallen wäre, wenn eine Athletin mit ihrer Brust die Latte berührt und Männer gewitzelt hätten; der Sportskandal des Jahres wäre als frauenfeindlich, übergriffig und sexistisch in die Bücher eingegangen. Es ist oft dasselbe Muster: Männer werden, sobald es um körperliche oder intime Themen geht, viel strengeren Standards unterworfen als Frauen. Den Moralexperten, die stets an vorderster Front «Sexismus!» rufen, fällt offenbar nicht auf, dass sie selbst Menschen aufgrund ihres Geschlechts ungleich behandeln. Sexistisch sind eben nur die anderen.

 

Neulich der Fall Thilo Mischke. Der preisgekrönte Journalist sollte neuer Moderator der ARD-Kultursendung «Titel, Thesen, Temperamente» werden. Dann aber forderte eine Gruppe Kulturschaffender Mischkes Absetzung in einem offenen Brief an die ARD und dass der Sender «aktiv gegen Sexismus» einzutreten habe. Den fördert der 43-Jährige angeblich in der Gesellschaft; der Vorwurf stützt sich vor allem auf sein Buch «In 80 Frauen um die Welt», das er vor fünfzehn Jahren – aus der Perspektive eines Verführers – geschrieben hatte. Mischke geht darin eine Wette ein, er soll auf einer Weltreise achtzig Frauen verführen. «Entstanden ist ein amüsanter Reisebericht der anderen Art. Natürlich schafft Thilo die achtzig Frauen nicht annähernd, aber er findet die ganz grosse Liebe» (Amazon). Auweia. Am besten das Buch sofort verbrennen! Ausserdem habe er mal die These geäussert, dass Männer biologisch gesehen Vergewaltiger seien. Der Sender knickte ein, Mischke war den Job los.

Doppelmoral schmeckt wie Milch, die zehn Tage in der Sonne steht.

Es scheint mir naiv, anzunehmen, dass ein fünfzehn Jahre altes Werk etwas über den Autoren aussagt – darüber, was er heute tut, wie er heute denkt oder wie er im Umgang mit Frauen ist. Man kann die im Buch verarbeitete Flachlegung möglichst vieler Ladys pubertierend oder abstossend finden, aber er hat damit niemandem etwas zuleide getan, keinem geschadet. Wer sich deshalb dazu berufen fühlt, für seinen Rauswurf zu sorgen, schreibt ihm einerseits einen Einfluss zu, den er nicht hat. Andererseits traut man dem mündigen Zuschauer nicht zu, sich selbst ein Bild zu machen. Was, wenn Mischke ein anständiger Typ ist, einer, den man gerne als Freund hätte – als Frau? Es gibt keinen Beweis, dass er das nicht ist.

 

Unter dem Titel «‹Queeres Begehren› geht in Ordnung – männliches aber nicht» schreibt Harald Martenstein dazu in der Welt, dass auch der Dümmste merken müsse, dass die Figur im Buch offenbar eher als abschreckendes Beispiel gemeint sei denn als Vorbild. «Wie soll ein Mann heute über Sex schreiben, ohne sich den Vorwurf des Sexismus einzuhandeln?» Er nennt das Beispiel der nonbinären Hengameh Yaghoobifarah, die neulich das Buch «Schwindel» geschrieben hat. Laut der Beschreibung käme darin eine Menge Sex mit wechselnden Personen vor, so Martenstein. «Nur geht es in diesem Fall nicht um männliches, sondern um queeres Begehren, also um politisch richtigen Sex statt um politisch falschen, was natürlich alles ändert, zumindest für die Kulturschaffenden, nehme ich an.»

Was lernen wir daraus? 1. Kaum ein Mann kann diese Art von Moralprozess überstehen, ohne öffentlich filetiert zu werden. 2. Wir sollten Menschen wieder danach beurteilen, wie sie wirklich sind und was sie tatsächlich tun – und nicht auf der Basis einzelner Aussagen oder alter Sünden. 3. Doppelmoral schmeckt wie Milch, die zehn Tage in der Sonne steht. Wer sie dennoch auftischt, darf sich nicht wundern, wenn er nicht mehr ernst genommen wird.

 

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