«Mon jeune ami», hatte ihm François Mitterrand erklärt, «ein Präsident muss die Geschichte kennen, ohne ihr Gefangener zu werden».
Michel Barnier, 73, war 1992 während Mitterrands cohabitation mit den Gaullisten dessen Umweltminister. Unter den Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy gehörte er der Regierung an.
Dann wurde er Kommissar der EU. Sein Gesellenstück waren die Brexit-Verhandlungen: Jeden Regierungschef der noch so kleinen Mitgliedstaaten hat er besucht und regelmässig nicht nur informiert, sondern auch konsultiert.
2022 wollte er an Emmanuel Macrons Platz Präsident werden. Er scheiterte in der Vorwahl der Republikaner.
Jetzt ernennt ihn der jüngste Präsident der Fünften Republik zu deren ältesten Premierminister. Als Königsmacherin fungierte Marine Le Pen. Die Farce ist die Folge von Macrons Fiasko.
Nach der Schlappe bei der Europawahl schickte der beleidigte Präsident das Parlament in die Wüste.
Bei der Erneuerung zeichnete sich die absolute Mehrheit für das Rassemblement National ab: Jordan Bardella, 28, als Premierminister.
In der Stichwahl funktionierte der «republikanische Pakt»: Er bescherte Frankreich, das so rechts ist wie nie seit 1945, eine – relative – linke Mehrheit. Jean-Luc Mélenchon wollte umgehend Premierminister werden. Bei der ersten Session verweigerten linke Abgeordneten dem jüngsten – einem RN-Gewählten – den traditionellen Handschlag. In kein wichtiges Amt wurde ein RN-Vertreter gewählt.
Täglich probte Macron die Ernennung eines Regierungschefs mit neuen Kandidaten: links, rechts, unpolitisch. Auch Christine Lagarde stand zur Debatte. Den Sozialdemokraten Bernard Cazeneuve, Premierminister während der Attentate, demontierte die Linke. Am Schluss verblieb Xavier Bertrand, Republikaner – diese haben weniger als 10 Prozent der Sitze im Parlament.
Ihn verhinderte Marine Le Pen: Bertrand hatte sie bei den Regionalwahlen im Norden zweimal besiegt.
Dann gab es nur noch Michel Barnier. Er hat die Wähler des Rassemblement National nie als Faschisten beleidigt. Das Gefängnis, in dem RN-Politiker lebenslänglich für Vichy und Pétain büssen, ist nicht seine Welt.
«Macron hat uns den Sieg gestohlen», schreit die Linke. Am Samstag forderte sie an einer mässig besuchten Demo in Paris seine Absetzung. Sie hat ein Verfahren eingeleitet.
Macron will sich wieder einmal «erneuern» und verspricht: die Regierung wird regieren.
«Ich werde die Wahrheit sagen», erklärt Barnier: «Wir werden mehr machen als reden. Ich respektiere jeden Wähler.» Er besuchte ein Krankenhaus und kündigte radikale Sparmassnahmen an: «Es wird keine Wunder geben.»
Am Sonntag segnete Marine Le Pen in der Tribune Dimanche die Ernennung ab: «Sein Programm für 2022 entsprach in weiten Teilen unseren Vorstellungen. Bezüglich der Einwanderung scheint er unseren Befund zu teilen.»
Lauter fromme Wünsche? Eine «ideale Notlösung»?
Michel Barnier als Premierminister ist die spannendste Personalie der französischen Politik seit Macrons Wahl 2017. Und ein leiser Hoffnungsschimmer für Frankreichs Versöhnung mit sich selbst.
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