Es gibt Sätze, die so einfach sind, dass man sie nicht missverstehen kann. Dieser hier zum Beispiel: «Wir halten an der Schuldenbremse des Grundgesetzes fest. Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen.»
Er steht im Wahlprogramm der Union, mit dem Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) im Wahlkampf durch die Lande zog.
Gut eine Woche nach der Wahl ist er Makulatur. Was die Union in diesen Tagen abliefert, ist so ziemlich die dreisteste Wählertäuschung seit 2005. Damals warb Angela Merkel mit zwei Prozentpunkten mehr Mehrwertsteuer für den Aufbruch aus dem Konjunktur-Jammertal, die SPD verteufelte dies und verlangte nach der Wahl selbst einen zusätzlichen Steuerpunkt, damit sie auch etwas zum Verschenken an ihre Wähler hätte. Es sei unfair, sagte der damalige SPD-Chef Franz Müntefering etwas später, Parteien an dem zu messen, was sie im Wahlkampf versprochen haben.
Nun denn.
Der Merz-Coup ist nicht nur dreist, sondern auch dumm. Merz will, entgegen der Wahlversprechen, die Schuldenbremse im Grundgesetz nicht nur aufbrechen, sondern auch noch gleich ein 500-Milliarden-Schuldenpaket daneben stellen.
Ein rückfälliger Alkoholiker, der es bei einer Flasche nicht belässt, sondern gleich ein Lieferabo abschließt. Er händigt die Staatskasse der SPD aus, bevor es überhaupt eine Regierung gibt. Dass dazu der alte, abgewählte, nur noch pro forma amtierende Bundestag zusammenkommen soll, weil die Mehrheiten im neu gewählten zu unkomfortabel sind, wird da schon fast zur Nebensache.
Durch die Absage an jegliche Kooperation mit der AfD ist Merz nun auf einen einzigen Koalitionspartner angewiesen, die SPD, muss deren Schuldenwünsche erfüllen und will diese auch noch ins Grundgesetz schreiben.
Die Folge: Wenn er bei der Regierungsbildung scheitert, steht das Steuerzahlergeld jedem anderen Regenten ebenfalls zur Verfügung.
Über Sinn und Unsinn schuldenfinanzierter Verteidigung und auf Pump sanierte Infrastruktur kann man streiten, über Wählerbetrug in Milliardenhöhe nicht. Merz weiss, dass die Union ein Glaubwürdigkeitsproblem hat und geht beim Lügen noch einmal «all in», wie man beim Pokern sagen würde.
In der Union ballen sie wieder einmal die Faust in der Tasche und grummeln. Das taten sie auch bei Angela Merkel schon und haben jetzt seit 2015 Übung darin, die auch diesmal folgenlos bleiben dürfte.
Wer zuerst das Geld rausrückt und dann hofft, dass er von der SPD Gegenleistungen bei restriktiver Migrationspolitik, harten Einschnitten in den Sozialstaat und Wirtschaftsankurbelung bekommt, ist entweder naiv, unfähig oder beides.
Warum Merz tut, was er tut, darüber gehen die Meinungen in der Union auseinander.
Die einen begründen das Aushändigen der Milliardenkasse an die SPD mit dem unbedingten Willen, sein Lebensziel Kanzleramt zu erreichen. Die anderen halten ihren Chef schlichtweg für überschätzt. Er distanziert sich von Donald Trump, obwohl der erkennbar die westliche Welt auf einen realistischen Machtpolitikkurs zurückführen will statt der gescheiterten Wunsch-Idylle einer werte- und regelbasierten Weltgemeinschaft, die es in Wahrheit nie gab.
Die Stärke des Rechts, die auch Merkel immer beschwor, war schon immer das Recht des Stärkeren, weil Recht nur eine Idee ist, die durch Stärke zur Geltung gebracht werden muss.
Verschlankung des Staates, Meinungsfreiheit und auf die Stimme der Wähler hören, wie es US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat, wären auch für Merz ein Weg, verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen – allein, ihm fehlt wohl der zeitgemäße Sensus für die aktuellen Entwicklungen.
Offen ist allerdings, ob er mit all dem durchkommt, denn für die Schulden-Orgien im Grundgesetz braucht er eine Zwei-Drittel-Mehrheit mit den Grünen, die bislang noch nicht so recht einsehen, warum sie sich im Wahlkampf beschimpfen lassen mussten, jetzt vor vollendete Tatsachen gestellt werden und dann auch noch brav dem tricksenden Wahlkampftäuscher mit ihrem Votum die Regierungskasse füllen sollen.
Ohne frisches Geld aber dürfte auch die Merz-Regierung kaum eine realistische Chance haben.
Längst sind die Risse in der deutschen Parteienlandschaft und in der Gesellschaft so breit und tief, dass sie nur noch mit Milliardenschulden mühsam übertüncht werden können.
So gesehen, ist Friedrich Merz nur das politische Symptom eines Landes über dem ein Hauch von Scheitern liegt.
Ralf Schuler war mehr als zehn Jahre Leiter der Parlamentsredaktion von Bild und ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS. Er betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein neues Buch „Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens“ ist im Fontis Verlag, Basel erschienen.
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