«Wer nicht in Mariupol war, kennt die Hölle nicht», sagt ein russischer Soldat, der gerade von der Front zurückkommt.
Die Hölle Mariupol besteht aus unzähligen völlig entkernten Gebäuden, aus Trümmern, aus Reihen von Leichen, die auf den Strassen liegen; aus Massengräbern, die im Schlamm in den Innenhöfen hastig angelegt wurden; aus Waisenkindern, die jetzt allein in diesen Höfen weiterleben.
Und wir fragen uns bange: Ist das noch Leben?
Die Lebenden beeindrucken mehr als die Toten: Sie wirken mit ihren blassen, dünnen Gesichtern wie Gespenster, weil sie seit Wochen in feuchten, dunklen Kellern hausen.
Ohne Licht und Strom, mit wenig Essen und fast ohne Trinkwasser. Wenn man sie trifft, legen sie einem einen Zettel in die Hand, auf dem sie die Telefonnummern vermisster Verwandter notiert haben. Ob wir herausfinden können, ob sie noch leben, und ihnen mitteilen würden, dass sie noch am Leben sind?
Auf den ersten Blick ist die Stadtmitte still und leer. Man hört nur das Zwitschern der Vögel und das zischende Geräusch der Mücken. Auf der Strasse treffen wir ein paar russische Soldaten.
Moskau und Kiew haben sich auf einen momentanen Waffenstillstand bis zum Abend geeinigt, um zu versuchen, Zivilisten zu evakuieren. Für ein paar Stunden wird nicht gekämpft.
Wir gehen schnellen Schritts durch die Hauptstrasse in Richtung Asowstal und gelangen in der unmittelbaren Nähe des Stahlwerks in ein Quartier, das nur noch aus zerfallenen Hochhäusern und Plattenbauten besteht.
Auf den Trümmerhaufen sitzen kleine Gruppen von Menschen, die gemeinsam kochen. Vor allem Frauen und Kinder haben die Bombardierungen überlebt.
Die rund 50-jährige Natalia führt uns in die kalten, schmutzigen und feuchten unterirdischen Bereiche, in denen die Überlebenden auf engem Raum leben. Die humanitäre Hilfe der russischen Regierung erreicht die Stadtviertel im Zentrum nicht. Die Distanz zu Asowstal und zu den ukrainischen Posten ist so gering, dass es gefährlich wäre.
Auf der Strasse treffen wir Elena. Sie lebt in der Nähe und hilft Nachbarn. Zusammen mit ihrem Mann geht sie von Haus zu Haus, um die dringendsten Wünsche der Menschen zu erfahren, insbesondere Medikamente für Senioren und Kranke.
Sie werde versuchen, die Arzneien ausserhalb der Stadt aufzutreiben. Wir folgen ihr bis zur Mitte des einstigen, von Trümmern übersäten Innenhofes.
Inmitten von Zerstörungen und Autowracks zeigt sie uns die zahlreichen Orte, an denen die Toten begraben sind. «Hier», sagt sie und weist mit der Hand auf eine Stelle, zudem «auch da» und «dort»: Bis zu sieben Tote seien hier in einem Grab verscharrt.
Wir folgen Elena weiter, bis zu einer Bunkertür. «Es ist ein provisorisches Waisenhaus», sagt unser Guide durchs Elend der zerstörten Stadt. Hier kümmern sich die Einwohner um Dima und Paolina, zwei Geschwister im Alter von vier und acht, die ihre Eltern im Bombenhagel verloren haben. Jetzt klammern sie sich aneinander, das Letzte, das sie aus dem bisherigen Leben noch haben. Sie lächeln nie.
Wenn wir versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, reagiert nur Dima. Er sagt zwar kein Wort. Aber mit seinen grossen traurigen Augen erzählt er uns das Unfassbare, das er erlebt hat; stumm beschreibt er die Hölle.
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