Die Historikerin Mary Elise Sarotte sieht durchaus noch Chancen für eine diplomatische Lösung des Konflikts, wenn die gemeinsamen Interessen Russlands und des Westens berücksichtigt werden, sagt sie in einem Zoom-Interview mit der Weltwoche. Man müsse die gemeinsamen Interessen beim Namen nennen – «sonst sterben in der Ukraine unzählig viele Menschen», meint Sarotte, die an der Johns Hopkins University doziert und ein Buch über die Periode nach dem Kalten Krieg geschrieben hat.

Erstens müsste der Vertrag über die Abschaffung nuklearer Mittelstreckensysteme (INF) erneuert werden. Er war 1987 zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Regierung unterzeichnet worden. Die beiden damaligen Supermächte einigten sich auf den Verzicht landgestützter Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) sowie die Vernichtung bestehender Systeme. Die Erneuerung des vor vier Jahren ausgelaufenen Vertrags liege sowohl im Interesse der Nato als auch Russlands, sagt Sarotte. «Die Nato hat ja nicht vor, in der Ukraine Mittelstreckenraketen zu stationieren.»

Zweitens wäre der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa neu auszuhandeln, also der «Treaty on Conventional Armed Forces in Europe» aus dem Jahr 1990, den Russland 2007 verlassen hat. Mit der Erneuerung würde Putin zumindest teilweise die Angst genommen, vom Westen mit konventionellen Waffen angegriffen zu werden.

Drittens sollte die Nato Putin klarmachen, dass sie nicht vorhabe, die Ukraine aufzunehmen. Für den Westen wäre das ohne Gesichtsverlust möglich, da er das in voraussehbarer Zeit sowieso nicht beabsichtigte. In der sogenannten Bukarester Erklärung aus dem Jahr 2008 hatte die Nato die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine begrüsst, dem Bündnis beitreten zu wollen.

Ob der Westen für eine diplomatische Lösung Hand bieten könne, «ist allerdings fraglich», meint Sarotte. US-Präsident Joe Biden sei mit etlichen innenpolitischen Problemen konfrontiert, die neue Regierung in Berlin sei noch unerfahren und auf das Gas aus Russland angewiesen, in Paris stehen Wahlen an, und Boris Johnson muss um sein Amt als Premier zittern. Putin nutze die Schwäche des Westens gezielt aus, was die Kriegsgefahr erhöhe, so Sarotte.