Dass Recep Tayyip Erdogan die Wahl in der Türkei verlieren würde, war mir schon lange klar. Unsere Journalisten hatten mir seine Abwahl angekündet. Sein Gegenkandidat Kemal Kiliçdaroglu, so wusste etwa die Aargauer Zeitung, «geht als klarer Favorit ins Rennen».

Erdogans klare Niederlage war derart unausweichlich, dass sich unsere Journalisten nur noch mit den Folgen dieser klaren Niederlage beschäftigten. «Wird Erdogan eine Niederlage akzeptieren?», fragte der Tages-Anzeiger. Der Blick wiederum wusste, dass Erdogan nach seiner Niederlage «seinen Posten nicht einfach räumen wird».

Erdogans Abwahl erinnerte mich stark an die Abwahl von Ungarns Viktor Orbán im vergangenen Jahr. Auch dieses Resultat hatten unsere Journalisten präzise vorhergesagt.

«Orbán steht vor den Trümmern», wusste etwa die NZZ und bejubelte seinen Gegenkandidaten Péter Márki-Zay als «den Mann für die grossen Überraschungen». Und das Schweizer Fernsehen kündete ebenfalls einen Machtwechsel an: «Plötzlich hat Orbán ein Problem.»

Nun, Erdogan wie Orbán gewannen ihre Wahl dann im lockeren Handgalopp.

Es stellt sich also die Frage, warum unsere Journalisten so unfähig sind, den Ausgang einer Präsidentenwahl auch nur einigermassen richtig vorauszusagen.

Unvergessen ist die kollektiv-kolossale Fehleinschätzung 2016 beim Duell von Hillary Clinton gegen Donald Trump. «Trump wird niemals Präsident, er hat nicht mal Aussenseiterchancen», sagte damals der Tages-Anzeiger. «Hillary Clintons historischer Weg», beschrieb das Schweizer Radio ihren sicheren Sieg als erste Frau im Amt.

Den Journalisten ist ihre politische Haltung ungleich wichtiger als ihre journalistische Professionalität.

Warum also liegen unsere Journalisten bei Präsidentenwahlen regelmässig falsch?

Es gibt zwei Erklärungen. Die erste macht unsere Journalisten eher sympathisch. Die zweite macht sie eher unsympathisch.

Die erste Erklärung wäre, dass Journalisten eine Art US-Mentalität haben. In einem Duell halten sie zum Underdog, so wie die Amerikaner im Boxring gern den Aussenseiter unterstützen. Darum, könnte man sagen, schätzen sie in der Türkei den Underdog Kiliçdaroglu, der den Rekordhalter Erdogan herausfordert, und sie halten zum Herausforderer Márki-Zay, der den Champion Orbán entthronen will. Diese Underdog-These würde Journalisten ganz sympathisch machen, aber die These ist leider nicht haltbar.

In diesem Fall nämlich müssten die Journalisten auch auf der Seite von Alice Weidel und ihrer AfD stehen, die in den deutschen Wahlen als Underdogs gegen die etablierten Regierungsparteien antreten. Sie müssten den Underdog Marine Le Pen und ihr Rassemblement national beloben, die das politische Establishment Frankreichs angreifen. Sie müssten in Österreich die Underdogs von Herbert Kickls FPÖ rühmen, die sich an der Dauer-Regierungspartei der ÖVP reiben. Und vor allem, o Schreck, o Graus, sie müssten sich nun hinter dem Underdog Donald Trump einreihen, der gegen den Titelhalter Joe Biden antritt.

Die Wahrheit ist viel profaner als die Underdog-These, und sie macht die Journalisten weniger sympathisch. Die Wahrheit ist, dass ihnen ihre politische Haltung ungleich wichtiger ist als ihre journalistische Professionalität. Die Wahrheit lautet: Wir schreiben bei Wahlen aus Prinzip, dass die linken Politiker gewinnen, und wir schreiben aus Prinzip, dass die rechten Politiker verlieren. Ob diese Ideologie der Realität entspricht, interessiert uns nicht.

In den Zeitungen verlieren die Rechten von Erdogan über Orbán bis Trump jede Wahl. In der Realität sieht das dann ganz anders aus.

Das krasseste Beispiel dieser vernebelten Sichtweise erlebten wir zuletzt bei den Wahlen in Finnland. Die sozialistische Ministerpräsidentin Sanna Marin war für die Medien unbesiegbar. Sie war «eine Lichtgestalt» (Tages-Anzeiger), sie war «ein Überflieger» (Berner Zeitung), sie war «ein Politstar» (Blick).

Und noch toller: Sanna Marin, dieser linke Lichtgestalt-Überflieger-Politstar, war überdies, so platzte die NZZ vor Bewunderung, «eine verheiratete Mutter einer vierjährigen Tochter».

Zurück zur Realität. Die Finnen sahen das ziemlich anders als die Journalisten aus der Schweiz. Im April 2023 verlor Sanna Marin krachend die Wahl und musste zurücktreten. Und im Mai 2023 reichte die verheiratete Mutter einer vierjährigen Tochter die Scheidung ein.

In den Medien gewinnen die Linken immer, im Leben seltener.