Tag 23 des Ukraine-Kriegs, die vierte Woche beginnt.
Die anfängliche Schockstarre hat sich gelegt, das Aufbegehren wird zur Routine einer kleinen Minderheit. Moskau ist schweigsam geworden; kein Hurra liegt in der Luft. Als hätten alle einen Gang zurückgeschaltet.
Wenn junge Frauen auf der Strasse lachen, fällt es auf. Ein trotziges Dulden hat sich über die Menschen gelegt, etwas sehr Russisches. Wer nachbohrt, begegnet widersprüchlichen Gefühlen: Ablehnung des Kriegs, Ablehnung des Westens, Versuche hilfloser Rechtfertigung. Jeder weiss schliesslich, dass Unrecht geschieht. Der Trotz gibt auch Kraft. Gegenwind, auch das Gefühl, unverstanden und ungeliebt zu sein, das alles weckt Energien, Widerstand.
Die Lage an der Front, die sich nur noch zäh und langsam bewegt, spiegelt den inneren Stellungskrieg. Die Phase der grossen Verluste ist vorüber; die Videos mit Kolonnen ausgebrannter Fahrzeuge und Panzer stammen alle aus den ersten Kriegstagen. Stattdessen andere: zerstörte zivile Infrastruktur und immer mehr Menschen auf der Flucht.
Derweil spekulieren die Experten: Kommt es wirklich zur Einnahme (und damit weitgehenden Zerstörung) der ukrainischen Hauptstadt, oder verschont die russische Führung das Juwel der gemeinsamen Geschichte? Vielleicht auch, weil mit einer unmotivierten Armee kein Häuserkampf gewonnen werden kann?
Niemand wagt eine Aussage, wie lange die spezielle Militäroperation, wie sie in den russischen Medien heisst, noch dauern wird. Einen Kapitulationsfrieden wird es nicht geben, und ein Verhandlungsfriede setzt voraus, dass beide Seiten ihn wollen. Nicht auszuschliessen, dass irgendwann sogar Russland daran ein grösseres Interesse hat.
Eben erst hat die Ukraine US-Waffen im Wert von einer Milliarde Dollar zugesagt bekommen. Ihre Armee mit 200.000 Mann ist weitgehend intakt. 200.000 Reservisten stehen bereit; und das 40-Millionen-Volk kann noch viele Hunderttausend Männer mehr mobil machen. Zwar fehlt der ukrainischen Armee die Ausrüstung für eine breit angelegte Offensive, doch mit den westlichen Panzer- und Flugabwehrraketen macht sie einer Besatzungsarmee das Leben zur Hölle.
Der immer noch bestens verdrahtete Chefredakteur des letzten kritischen, inzwischen verbotenen Radiosenders Echo Moskwy, Alexei Wenediktow, listet die aktuellen russischen Verhandlungsziele auf. Dabei dechiffriert er, übrigens mit einem Hinweis auf die Rechtslage in Deutschland, Putins Forderung nach «Entnazifizierung» der Ukraine: Verbot neonazistischer Organisationen und ihrer Symbolik sowie die Wiederanerkennung des Russischen als Amtssprache.
Die weiteren Ziele: Anerkennung der Krim als russisches Hoheitsgebiet, Neutralität der Ukraine und Verzicht auf den Donbass – allerdings nicht nur auf die bisherigen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, sondern auf die deutlich grösseren gleichnamigen Oblaste.
Gegenwärtig sieht es nicht so aus, als ob Kiew sich darauf einlässt.
Thomas Fasbender berichtet als Sonderkorrespondent für die Weltwoche aus Moskau.
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