Mein Mann Anatoli ist Chauffeur eines Transportunternehmens. Ausgerechnet für vergangenen Donnerstag hatte er einen Auftrag, eine grosse Warenladung nach Spanien zu bringen. Als wir realisierten, wie ernst die Lage ist, entschlossen wir uns spontan, mit der ganzen Familie die Stadt zu verlassen: Neben Anatoli und mir sind das unsere Tochter Mascha (9), unser Sohn Michail (17) und die Katze Oliva.
Wir gingen keinen Moment zu früh. Denn mittlerweile ist Sumy eingekesselt. Meine Schwester Anja sitzt mit ihren drei Kindern im Keller fest. Und meine Mutter Nadja harrt in ihrem Haus aus. Eine Flucht kommt für sie nicht in Frage. Denn sie ist schon über 70 Jahre alt und will ihr Haus nicht verlassen. Damit begibt sie sich in grosse Gefahr. Einen Schutzkeller hat sie nicht. Ich habe ihr gesagt, dass sie alle verfügbaren Gefässe mit Wasser auffüllen soll. Denn niemand weiss, wie lange die Leitungen noch funktionieren. Allmählich werden auch die Lebensmittel knapp. Die Läden haben nur zwei Stunden geöffnet – und davor bilden sich lange Warteschlangen. In der Nacht herrscht Ausgangssperre; wobei ohnehin niemand auf die Idee käme, bei Dunkelheit das Haus zu verlassen.
Da ist meine Cousine Anna in einer vergleichsweise besseren Situation. Zusammen mit ihren drei Kindern – den sechsjährigen Zwillingen und dem zehnjährigen Sohn – hat sie sich in den Keller ihres Wohnblocks zurückgezogen. Eigentlich dient der Raum ihrem Mann, einem Schreiner, als Lager- und Ausstellungsfläche. Nun kann die Familie die Möbel, die eigentlich für den Verkauf bestimmt sind, selber nutzen.
Unsere Fahrt gegen Westen verläuft sehr schleppend. Durch die Masse der Flüchtenden bilden sich lange Staus. Ausserdem sind die ukrainischen Strassen voller Schlaglöcher. Kommt dazu, dass die Russen auch die Verkehrswege bombardieren. Deshalb kann man nachts nicht fahren. Und weil unser Lastwagen vollbeladen ist, werden die Reifen auch so überbeansprucht. Schon zweimal mussten wir ein Rad wechseln. Immerhin können wir in der Kajüte schlafen. Die erste Nacht verbrachten wir in Tscherkassy im Zentrum des Landes, 160 Kilometer südöstlich von Kiew, die zweite in Ternopil. Von hier sind es noch rund 150 Kilometer zur polnischen Grenze. Dass wir das Land wirklich verlassen können, war nicht klar. Denn alle Männer im wehrfähigen Alter – zwischen 18 und 60 Jahren – werden von der Armee eingezogen. Anatoli ist genau 60. Aber es wurde ihm versichert, dass er ausreisen darf.
Er wollte seinen Auftrag wahrnehmen und den Gütertransport nach Spanien bringen. Der Plan war es, mit den Kindern und der Katze bei meiner Cousine Tatiana in der Nähe von Zürich auszusteigen. Die Solidarität, die wir spüren, ist sehr schön. Sie gibt mir Hoffnung, dass vielleicht doch wieder alles gut wird. Wir kommen aber ganz sicher nicht in die Schweiz, um zu bleiben. Wir wollen zurück nach Hause. Aber wenn uns die Russen unsere Heimat rauben, sieht natürlich alles anders aus.
An der polnischen Grenze machten uns die Zöllner einen Strich durch die Rechnung. Sie liessen den Lastwagen mit der Fracht nicht passieren. So blieb uns nichts anderes übrig, als das Fahrzeug zurückzulassen. Wie es weitergeht, wissen wir noch nicht. Aber vermutlich werden wir unsere Reise mit der Eisenbahn fortsetzen.
Wenn ich höre, dass die russische Propaganda dem Westen im Allgemeinen und den Amerikanern im Speziellen die Schuld an der Eskalation gibt, kann ich nur den Kopf schütteln. Als frühere Spitzensportlerin im Biathlon habe ich auch etwas von der Welt gesehen – und ich weiss, dass der Westen nicht ein diabolischer Sündenpfuhl und eine quere Gesellschaft ist, wie es von Putin immer behauptet wird.
Sowieso wissen in der Ukraine die meisten Leute überhaupt nicht, wie die Amerikaner sind. Aber sie wissen, wer die Russen sind. Damit meine ich aber nicht das russische Volk. Denn von meinen Verwandten aus Rostow am Don höre ich, dass sie sich für ihr Land schämen. Sie wollen diesen Krieg nicht. Denn es gibt keinen rationalen Grund, diesen Krieg zu führen. Es ist ein vom Kreml politisch erzeugter Konflikt, der überhaupt keinen Sinn macht. Und dies macht die Situation noch viel beklemmender, als sie ohnehin schon ist.
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