Nach Auschwitz ist jeder aktuelle Vergleich mit den dreissiger Jahren zwar obszön. Wie damals ist der Antisemitismus aber Ausdruck der tiefen Krise, in der die Demokratie steckt. Dafür sind nicht nur die «Populisten» verantwortlich. Zum Jahrestag veröffentlicht die Zeitung Le Parisien eine Umfrage, die zeigt, wie stark das Mahnmal Auschwitz an Kraft verloren hat und dass die antisemitischen Klischees nicht auszurotten sind. 64 Prozent der Bevölkerung halten den Antisemitismus für ein in der Gesellschaft «verbreitetes Phänomen». 85 Prozent der Juden teilen diese Ansicht. Sie erwähnen Aggressionen, deren Opfer sie sind.
Die grosse Angst der Juden betrifft längst nicht mehr nur den Hass der Muslime. Tausende sind nach Israel umgezogen. Viele haben ihren Wohnort innerhalb Frankreichs gewechselt, weil das Leben in den Banlieues unerträglich geworden ist. Wo man in den Schulen weder die Schoah noch die Anfänge des Islams – mit den Eroberungen des Propheten – unterrichten kann.
Frankreich steckt im Taumel der islamischen Einwanderung, seiner sozialen Probleme und der unbewältigten Vergangenheit: von Vichy wie dem Kolonialismus. Gegner des Impfpasses demonstrieren mit dem Judenstern. Nach seiner Einführung Anfang der Woche kam es nicht nur zu Morddrohungen gegen Abgeordnete von Macrons République en marche, sondern auch zu physischer Gewalt.
Der Hass auf Macron hat viele Gründe, unter anderem auch eine antisemitische Komponente. Die Instrumentalisierung des Antisemitismus wird auch von den «Eliten» betrieben. Schamlos. So twitterte Macrons Europaministerin und Spitzenkandidatin für die anstehende Wahl ins Europa-Parlament, Nathalie Loiseau: «Die europäischen Sterne sind uns lieber als der Judenstern.»
Perfider kann man die Instrumentalisierung des Judenhasses schlechthin nicht betreiben. Sie ist eine Relativierung des absoluten Grauens. Wer auf diese Weise den Antisemitismus mobilisiert, verliert jegliche Glaubwürdigkeit. Ebenso verwerflich ist es, antisemitische Ausschreitungen der «Gelbwesten», wie es die Regierung schon zu Beginn der Revolte tat, als «braune Pest» zu bezeichnen. Das verschärft nur noch die Vertrauenskrise der Demokratie, die man zu retten vorgibt. Der Besuch von Castex in Auschwitz ist deshalb zwar eine noble Geste. Ob er aber damit das Klima in Frankreich verändern wird, ist eine andere Frage.
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