Es liegt noch Schnee in Kasan. Die muslimisch geprägte Hauptstadt der Republik Tatarstan erreicht man von Moskau aus in elf Zugstunden. Um weiter nach Innopolis zu gelangen, braucht es noch eine Stunde im Autobus. Es ist eine Retortenstadt auf dem jenseitigen Wolga-Ufer, eine vor zehn Jahren entstandene Universitäts-, Wissenschafts- und Forschungssiedlung. Unterrichtssprache ist Englisch, jeder zweite Professor kommt aus dem Ausland.
In der farbenfrohen Cafeteria treffe ich junge Absolventen, die in Innopolis arbeiten. Nikolai verdient sein Geld mit Kryptowährung. Den teuren Dollar und die Sanktionen sieht er als seine Chance; raus aus dem Rubel und dann raus mit dem Geld geht nur noch mit Bitcoins. Russland im Internet isolieren? Unmöglich. Jeder weiss, welche VPN-Anbieter noch funktionieren, alle verfolgen internationale Medien. Nicht einmal Facebook und Instagram sind flächendeckend blockiert.
Alle kennen sie ITler, die ins Ausland gegangen sind, viele schon vor dem Krieg. Gründe: höhere Gehälter, Angst vor Perspektivverlust, der zunehmende Druck der Staatssicherheit auf die Datenbranche. Inzwischen spaltet der Krieg die Daheimgebliebenen. Natalja und Artjom, junge Eltern aus Kasan, berichten von Familien, in denen Väter und Söhne nicht mehr miteinander reden. «Dein Grossvater ist für Russland gefallen, und jetzt verrätst du uns», seien dann die letzten Worte.
Die meisten der jungen Leute sind putinkritische Patrioten, Gegner des Kriegs und dabei stolz darauf, dass Russland sich von nichts und niemandem dominieren lassen wird. Wem sie glauben im Krieg der Informationen? Es gibt keine Antwort. Skepsis gehört zu den russischen Kardinaltugenden. Olga, die für die Luftfahrtindustrie arbeitet, meint, die Ukrainer produzierten genauso Propaganda und Fakes. Auch Faktenchecker, die im Übrigen auf beiden Seiten tätig sind, besitzen ihre Agenda. Wie die Propagandisten präsentieren sie eingängige Erklärungsmuster; aus einem Korn Wahrheit zaubern sie eine Ähre.
In Kasan noch mehr als in Moskau spürt man, wie Russland mit jedem Tag gen Osten rückt. Artjom kann nicht glauben, dass der Westen sich für harmlos hält. «Und die Raketen an der russischen Grenze?», fragt er. «Und eure Raketen?», frage ich zurück. Das Misstrauen bleibt. Die Nato harmlos? Er schüttelt den Kopf. Gegen wen haben wir denn den Kalten Krieg geführt?
Manche Aussage spiegelt schieren Geschichtsfatalismus. Der junge Mann mit den Bitcoins fragt sich, ob der Konflikt überhaupt vermeidbar war. Nicht der Krieg – aber die Konfrontation. Dass die politischen Verhältnisse autoritär bleiben werden, in Teilen auch repressiv, ist allen bewusst. Der kollektive Mechanismus, damit umzugehen, ist uralt. Das riesige Land bietet Freiheiten, in die der Staat nicht hineinreicht. Zudem fehlt die Selbstkontrolle der Gesellschaft, die den liberalen Staat erst möglich macht.
Die Menschen reden frei und offen, in Moskau nicht anders als in Innopolis. Auch wenn Fremde in Hörweite sind. Noch gibt es keine Angst vor Spitzeln. Ein älterer Professor, der sich zu uns setzt, lächelt abgeklärt, als ich ihn frage, ob sich das ändern kann: «Im Laufe einer halben Stunde.» Er hat Familie in Westeuropa und weiss nicht, wann er sie wiedersehen wird.
Kann es sein, dass die Generation, die in der UdSSR aufgewachsen ist, unter dem Verlust Europas mehr leidet als die Jüngeren? Noch ist das Andere, Neue nur eine Ahnung. Der Monitor in der Coffeeshop Company in Kasan zeigt entspannte Reisevideos: Skaten vor dem Petersdom, Flanieren auf dem Markusplatz, Segelboote vor griechischen Inseln. Im Ambiente der Latte-macchiato-Welt vergisst man, dass eine Epoche abgewickelt wird.
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