1978 hat der Autor zum ersten Mal das heutige Russland besucht, Leningrad. Der tiefsitzende Eindruck damals: Russen sind Menschen ohne Mienenspiel. Sobald sie Ausländer sehen, erfriert ihr Gesicht zur ausdruckslosen Maske. Dann, nach 1990, begann ein Zwischenspiel, eine neue Realität. Aber war es Realität? Oder war es ein Traum? Das europäische Haus verfällt, bevor Richtfest gehalten wurde. Schon sind die Korridore verbarrikadiert, schon rostet der Draht von Mensch zu Mensch. Russen canceln ist das neue Schwarz, und es hat was von der Lust am Brückenverbrennen.
Der Autor, entschlossen, dem Geschehen von Moskau aus beizuwohnen, hat sich ein Ticket über Belgrad gekauft. Air Serbia fliegt noch. Das gefällt nicht jedem: Nach dem Start des Airbus 320 geht im Belgrader Nikola-Tesla-Flughafen eine Bombendrohung ein. Den Urheber empört, dass Serbien sich der Boykottfront nicht anschliessen will.
Die Passagiere baden die Folgen aus. Keine halbe Stunde in der Luft, kippt der Airbus ohne jede Vorwarnung in eine enge Steilkurve. Es wird mäuschenstill an Bord; 209 Fremde tauschen stumme Blicke aus. Zurück nach Belgrad. Am hintersten Ende der Rollbahn warten Feuerwehrzüge und Polizei. Nach einer gespenstischen halben Stunde geht alles ganz schnell: Raus, raus, ohne Handgepäck, ohne alles. Schwer bewaffnete Spezialeinheiten bringen die Passagiere zu einem abgesperrten Gate.
Abends fliegen wir endlich weiter. Es sind fast nur Russen an Bord, einige Serben, drei oder vier Deutsche, ein Österreicher, eine Französin mit ihren Kindern. Die Letztgenannten besitzen Reisepässe «unfreundlicher Staaten». So hat Russland inzwischen die EU-Mitglieder und einige andere getauft. In Moskau angekommen, prüft der junge Grenzbeamte den Pass und das Visum, prüft noch einmal und ganz genau. Dann telefoniert er. Ein Kollege kommt, nimmt den Pass mit. Dort hinsetzen, sagt er. So geht es allen, den Deutschen, dem Österreicher, der Französin und ihren Kindern. Noch vor vier Wochen hätten die jungen Beamten gelächelt.
Als das Taxi vor dem Hotel hält, ist es kurz vor fünf am Morgen. Zwanzig Stunden Berlin-Moskau, Tür zu Tür. Dafür kostet die Fahrt ins Zentrum umgerechnet nur sechs Euro. Innert zweier Wochen hat der Rubel die Hälfte seines Werts eingebüsst. Nach 30 Jahren schon wieder eine neue Realität.
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